Pilgern

‚Pilgern ist geistig durchdrungenes und zielgerichtetes Gehen, das ein Überdenken der eigenen Ausrichtung anstößt und in letzter Konsequenz zur personalen Veränderung führt.’
 
(Christoph Kühn 2007 beim Pilgerworkshop von ‚Kirche und Tourismus’ in Erfurt).

Als ‚Beten mit dem Füßen’, als Weg zu sich selbst und Weg zu Gott verstehen Pilger ihren Weg.
Entscheidend ist für alle der religiös-spirituelle Zusammenhang bis hin zu einer Wiedergewinnung von Schöpfungstheologie und neuer Langsamkeit.
Unverzichtbar für Pilgerwege sind offene Kirchen als Stationen als Stätten der Einkehr und des Gebetes und Pilgerherbergen oder andere Übernachtungsangebote
 

1.1. Geschichte des Pilgerns

In der jüdisch-christlichen Tradition gilt Abraham als einer der ersten Pilger. Der Auszug des Volkes Israel ins Heilige Land war eine jahrzehntelange Pilgerreise. Und der Tempel in Jerusalem wird später in vielen Psalmen als Pilgerziel besungen. Doch schon das Alte Testament betont: Gott wohnt nicht nur im Tempel. Jahwe, „Ich bin, der ich bin“, ist unterwegs mit den Menschen. Das Neue Testament spitzt diese Ansicht noch zu. Gott ist das „Wort“, er wird „im Geist und in der Wahrheit“ angebetet. Die ersten Christen pilgern nicht; doch die Bewegung lebt bald wieder auf. Im dritten Jahrhundert werden Jerusalem und das Heilige Land Ziel der Pilger. Hundert Jahre später kommen mit der Heiligenverehrung die Reisen zu deren Gräbern hinzu. Besonders beliebt waren die Ruhestätten der Apostel Petrus und Paulus in Rom, bald gefolgt von dem Grab des Jakobus in Santiago di Compostela. Das Hochmittelalter wird schließlich die Hoch-Zeit der Pilger. Sinn und Unsinn der einsetzenden frommen „Lauferei“ wird allerdings bereits zu dieser Zeit hinterfragt. „Wer viel pilgert, wird selten heilig“, sagt Thomas von Kempen im 14. Jahrhundert.  Auf den beschwerlichen Reisen wollen die Pilger Vergebung erfahren und Verdienste für ihr Seelenheil erwerben. Regionale Ziele werden durch Wallfahren erreicht,  Jerusalem, Rom und Santiago de Compostella sind die großen Pilgerziele in der Ferne. Bei einer solchen Pilgerreise ist bereits der Weg das Ziel. Wer in der Nachfolge Christi lebt, soll als Büßer unterwegs sein, ohne feste Bleibe und ohne Besitz.  Vor allem die Mönche des Mittelalters sehen sich als ständige Pilger, als Fremde in der Welt. Das entspricht auch dem Wortsinn: "Pilgern" geht zurück auf das lateinische "pergere/per agere" und bedeutet soviel wie "jenseits des Ackers" oder "in der Fremde". Auch das griechische „xenos“, also „Gast/Fremder“, meint im Neuen Testament „Pilger“. Der Mensch ist zeitlebens unterwegs zu Gott. Er ist „homo viator“, ein „Wegegeher“, so betont es die klösterliche Pilgertradition. Der Benediktiner Anselm Grün spricht heute von dem Menschen, der auf dem Weg ist, der „wandernd sich wandelt.“ Pilgern ist so gesehen eine Lebenshaltung, ein beständiges ‚Beten mit den Füßen’. Die moderne Pilgerbewegung verfolgt kein einheitliches Ziel mehr. Doch das „auf dem Weg sein“ zieht viele Pilger an - seien sie katholisch, evangelisch oder esoterisch geprägt. Ziel ist es, unterwegs zu sein – zu sich selbst, zu den anderen, zu Gott.

1.2. Pilgern evangelisch

Der Protestantismus, so Oberkirchenrat Dr. Torsten Latzel, Geschäftsführer des EKD Arbeitskreises ‚Freizeit- Erholung- Tourismus’ lässt sich auch als eine große Pilgerbewegung lesen. Sicher nicht im Sinne eines Wallfahrens hinter einer Monstranz oder eines hippen Zeitphänomens. Aber im Sinne eines „Wanderns mit Gott auf den Spuren der Mütter und Väter des Glaubens“.
Fünf „Wegmarken“ zeigen, worum es aus evangelischer Sicht beim Pilgern geht.

- Wanderbare Freiheit:

Wer pilgert, begibt sich in einen Erfahrungsraum religiöser Freiheit. Wie der Psalmist es ausdrückt: „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“. Der Pilgernde geht heraus aus Pflichten und Zwängen des Alltages, löst sich von seinem Ort, ist offline, erfährt Weite, Raum, Zeit.
Diese „wanderbare Freiheit“ ist dabei eine paradoxe Freiheit. Sie wird gerade darin erfahren, dass man sich auf Bindungen andere Art einlässt: einen bestimmten Weg zu gehen, mit festen Gebetszeiten, mit alten Riten, je nachdem auch in Gemeinschaft mit anderen. Dieses paradoxe Verständnis einer in Bindung erfahrenen Freiheit gehört zu den Grundeinsichten evangelischen Glaubens. Luther drückt dies in der Schrift von der Freiheit eines Christenmenschen so aus: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Pilgern kann zu einem Erfahrungsraum dieser paradoxen Freiheit werden, weil der Mensch hier gleichsam aus sich herausgeht, sich als „ex-zentrisches Wesen“ erfährt, frei von der Fesselung an sich selbst, frei für Gott, den Mitmenschen und sich selbst.

- Sinnes-Wandel:

Wer pilgert, wandelt seinen Sinn. Zunächst rein körperlich und dann, wo und wann es Gott gefällt, auch geistlich. Atem und Puls werden bewusster, Blasen schmerzen an den Füßen, Augen kommen zur Ruhe von der ständigen Bilderflut, Ohren hören Stille, es riecht nach Weg und Wald, Schweiß, Staub und Wasser kommen auf die Zunge, der Kopf fängt an, an anderes zu denken. Im Gehen und Beten, im Reden und Schweigen, Singen und Segnen kann es sich dann ereignen, dass auch der „Seelen-Sinn“, das Dichten und Trachten des eigenen Herzens neu ausgerichtet werden. Dass es einer anderen Grundmelodie des Lebens folgt, können wir nicht machen. Wir haben unser Herz nicht in der Hand. Wir können nur  hoffen, dass Gott selbst - etwa im Pilgern - sich unserer geistlichen Herzrhythmus-Störungen annimmt.

- Geistliche Quellensuche:

Wer pilgert, geht auf Spurensuche. Er geht auf Suche nach Wegen der Tradition, nach kulturellen Vorbildern, nach religiöser Erfahrung der Mütter und Väter im Glauben, nach geistlichen Quellen. Ob Jakobsweg, Elisabethpfad oder Lutherweg: Es ist eine geistliche Such-Bewegung „ad fontes“, zurück zu den Quellen. Dieser geistlichen Rückbesinnung und Quellensuche entspricht dann auch die archaische Form der Fortbewegung - das Gehen. Die reformatorischen Kirchen verstehen sich selbst im Blick auf ihre 2000 jährige Geschichte als eine solche Bewegung ad fontes, zurück zu den geistlichen Quellen. In der maßgeblichen Ausrichtung allein an der Schrift, dem sola scriptura, kommt dies zum Ausdruck. Und auch in der evangelischen Kirche spielt für die Annäherung an diese Quelle eine archaische Form der Kommunikation eine zentrale Rolle - die Rede, das unmittelbare persönliche Wort von Mensch zu Mensch. In der geistlichen Quellesuche des Pilgerns spiegelt sich so - aus evangelischer Sicht - die urprotestantische Bewegung zu den Quellen. Und vielleicht ist das Gehen in besonderer Weise geeignet, um unter den Bedingungen einer ständigen medialen Beschleunigung und allgemein kulturellen Tempodroms für das Reden und Hören von Gott zu sensibilisieren.

- Konzentration auf das Wesentliche:

Wer pilgert, konzentriert sich auf das Wesentliche. Zumindest sollte er oder sie das tun - allein schon tragetechnisch Der Konzentration auf das Notwendige - Rucksack, Wanderschuhe, Regenkleidung, Zahnbürste - entspricht die geistliche Konzentration. Kein Handy, Fernsehen, Internet. Stattdessen mit einander gehen, reden, beten, schweigen. Darin spiegelt sich - wieder in evangelischer Sicht - die Konzentrationsbewegung, die sich in den reformatorischen „soli“ ausdrückt: allein durch den Glauben, allein aus Gnade, allein in Christus. Alleine so begegnen wir Gott, erfahren wir den Sinn des Lebens, gründet sich die Kirche als Gemeinschaft der „Glaubenden auf dem Weg“. Oder um es mit einem Werbespruch zu sagen: im Pilgern wie im Glauben insgesamt geht es um ein „reduce to the max“, um eine heilsame Reduzierung auf das Wesentliche, das zugleich das Maximum ist.

- Freude an der Schöpfung:

Wer pilgert, geht auf eine Entdeckungsreise, auf der ihr oder ihm die Schönheit von Gottes Schöpfung neu begegnet. Zu der ersten und wichtigsten Wiederentdeckung gehört dabei sicher die der eigenen Füße. Der Mensch nicht nur als vernunft-, sondern eben auch als fußbegabtes Wesen, ein „animal rationale et pedale“. Dazu zählt dann die Schönheit der Mitmenschen und Mitwelt: von Wasser zum Trinken, von einem Dach über dem Kopf, einem guten Essen, dem Blick vom Berggipfel, von der Gemeinschaft auf dem Weg. Die Wiederentdeckung der Welt als gute und schöne Schöpfung Gottes. Das kann einen Menschen, wenn es sich ihm erschließt, glücklich, dankbar, froh und verantwortlich engagiert werden lassen. Dies ist zugleich Ursprung evangelischer Ethik, eines Lebens aus Dankbarkeit.

Der Arbeitskreis ‚Kirche und Tourismus’ der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland beschäftigt sich seit 2006 intensiv mit dem Thema ‚Pilgern’.
2007 waren Akteure aus Kirche, Wanderbewegung und Tourismus zu einem Workshop ins Erfurter Augustinerkloster eingeladen. Dies war der Auftakt eines Dialoges zwischen Pilgerinitiativen und Tourismusmanagern, um sich zu verstehen und zu verständigen.
Seit 2008 gibt es unter dem Dach des Gemeindedienstes der EKM eine eigene Arbeitsgruppe, die sich als Plattform aller mitteldeutschen Pilgerinitiativen versteht


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